Una crociera - Text 3

Dann ging er aufs Deck, ins Freie.
    Ein schwerer, salziger Wind; der scharfe Schnitt des Horizontes in der Abenddämmerung, die die Farben auslöschte und dem Meer den Glanz von Wein verlieh. Venus in der Luft, in dem braunen Dunstschleier pulsierend, der sich vom Himmel senkte.
    Er war auf einer Kreuzfahrt, diesem Ort der Imagination, den er sorgfältig vorbereitet und entworfen hatte, in der immer wieder verdrängten und dabei doch ungewollt beharrlich genährten Überzeugung, es sei möglich, die Anfänge ihrer gemeinsamen Existenz wieder zum Leben zu erwecken, so wie sie gewesen waren, zumindest in der eher unwahrscheinlichen Erinnerung, die er bewahrt hatte. Und die Zeit hatte ihren Lauf tatsächlich verlangsamt, und diese ersten drei Tage hatten sich aufgeschlossen, als ob jeder von ihnen noch einmal so viele enthielte; doch was er dort gefunden hatte, war das Gegenteil dessen, was er erwartet hatte – und jetzt erkannte er, mit welch naiver und trügerischer Entschlossenheit er sich den glücklichen Ausgang weiter versprochen hatte, wie eine Verpflichtung der Wirklichkeit ihm gegenüber.
    Am vorderen Ende des Decks angekommen, sah er die Spitze des Schiffes über dem Meer voran eilen, das im unbestimmten Raum des Abends verschwand. Oberhalb der Brüstung preßte der stetige Wind seine Brust zusammen, verklebte seine Lider. Lauwarm noch, aber feucht und kräftig: als er sich umdrehte, um zurückzugehen, wurde er im Nacken von einem Windstoß erfaßt, der seine Schritte wie von selbst bis zu einer Tür schob, durch die er wieder ins Innere trat.
    Mehr sogar, tief unten in seinem leeren Kopf hatte er noch mehr erhofft: daß es in einer dieser Nächte zur Empfängnis kommen könnte...was für eine Torheit! Sie war tief eingewurzelt, diese Vorstellung einer wohlwollenden Ordnung, der Aberglaube, daß jedes Problem sich lösen ließe, daß es diese Ambivalenz aller Dinge gar nicht gäbe. Die Unordnung zähmen: eine Krankheit benennen und beschreiben, ihr eine Ursache geben, sie im besten Fall heilen; mehr konnte man nicht tun. Das Syndrom, das seinen Namen trug, der Verschluß der oberen Aortaabschnitte, ließ einen Menschen erblinden: doch ein spitzer Gegenstand hätte die gleiche Wirkung; und es gibt keine einzige Erklärung dafür, daß das Augenlicht sich auslöschen läßt: daß die Naturordnung nicht feststeht und mehr Verletzungen erleiden muß als Befolgung ihrer Regeln. Die ganze Pathologie ist eine willentliche Selbsttäuschung, ein Katalogisieren von Veränderungen, Symptomen, Krankheitsverläufen, das Zusammenstoppeln einer monströsen Ordnung aus der Unordnung; die Behandlung ein Notbehelf, das Spielzeug ist kaputt und wir flicken es wieder zurecht, wegwerfen können wir es immer noch. Was ihn betraf, so hatte die Krankheit ihn noch nicht gesucht, und was da jetzt in seinem Inneren geschah, war alles von einer exemplarischen biologischen Normalität: bei einem erwachsenen männlichen Individuum um die fünfzig trat der Fortpflanzungsinstinkt ins Bewußtsein und setzte sich dort in der seltsam schmerzhaften Form des Begehrens fest. Unbestreitbar war sie zwar, aber weder erklärte, noch erstickte diese Erklärung seinen Schmerz. Er erinnerte sich sogar deutlich an den Moment und die Art und Weise, wie er zu leiden begonnen hatte. An einem Nachmittag vor acht Jahren, am Schreibtisch in seiner Junggesellenwohnung; während er mit dem Lärm der Familie im Stockwerk über ihm kämpfte, hatte er statt eines unartikulierten Weinens zum ersten Mal die Stimme des kleinsten Kindes gehört: zart und in einem einzigen Wort erklang sie, Milch, meinte er zu hören, und da war er, die Hände nervös über den Seiten seines Buches ausgebreitet, von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt worden, und zwei Minuten, vielleicht länger, hatte er ihm freien Lauf gelassen, ohne ihn besänftigen zu können.
    Immer noch darauf zu hoffen, welch eine Torheit!, wenn Chiara, um die Unmöglichkeit noch deutlicher und den Wunsch noch vergeblicher zu machen, ihm den Rücken zudrehte. Er stieg die Treppe zu den Kabinen hinunter, suchte auf den Korridoren nach seiner eigenen, schloß sich ein. Er tappte zwischen der Menge an Gerätschaften umher, und dann aufs Bett, mit dem ganzen Körper. Doch, das Unlösbare existierte: wie die unförmige Masse der Finsternis, die er auf sich und um sich herum befühlte, wie die Blindheit, die jedes Auge bedroht... Er fand den Lichtschalter: das Zimmer erschien vor ihm, von großen schwarzen Vorsprüngen entstellt, die sich über dem Schrank und dem Rahmen des Spiegels aufhäuften; langgezogene Flecke tropften von den Gardinen, und von den Spitzen seiner Schuhe erhoben sich zwei Schatten aus dem Bett. Schlafen hätte er gewollt, bis morgen, nicht weil die Müdigkeit es erzwang, sondern um dem Geist eine Pause zu gönnen. Er blieb so liegen, vielleicht eine Viertelstunde, vielleicht zwei, ohne daß ihm daraus eine nennenswerte Besserung zuteil wurde. Es mußte fast Zeit zum Abendessen sein, er wollte die anderen nicht warten lassen: und streckte den Arm zum Nachttisch aus, löschte das Licht; dann richtete er sich an einer unbestimmten Stelle auf dem Fußboden wieder auf, ging zwei Schritte vor, seine Finger versanken in der Polsterung der Tür, tasteten sich bis zum Türgriff vor. Wieder war er in der blendenden Helle des Korridors, die enge Treppe hinauf, es schien ihm, als öffnete er die Augen erst wieder im Speisesaal.

(Aus Una crociera, Feltrinelli, Milano 2000, S. 178–180. Deutsch von Annette Kopetzki; © Cesare De Marchi) 

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