Meine Arbeit an einem Roman zwischen zwei Realitäten

[…] Nun ist ja ein italienischer Schriftsteller, der in Deutschland lebt und an einem Roman arbeitet, der auf italienisch verfaßt wird, aber im Deutschland des 18. Jahrhunderts spielt, schon an und für sich ein Kuriosum und bedarf einiger erklärender Worte.
     Der Roman, an dem ich seit einigen Jahren arbeite, spielt tatsächlich im ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland auf dem Land, genauer gesagt auf dem Göltenhof, einem Bauernhof im Hohenlohischen. Da ich auf dem Göltenhof 6 Jahre meines Lebens verbracht habe, wäre man leicht versucht zu denken, daß die erste Anregung zu diesem Roman von einer trivialen biographischen Begebenheit kam. Und so ist es auch. Als Genueser habe ich genuesische Erzählungen, als Mailänder mailändische Romane geschrieben, warum sollte ich jetzt nicht einen Göltenhof-Roman schreiben? Damit scheint mein Kuriosum auch schon trivial geworden zu sein! Allerdings bedeutet dieses Zusammentreffen von Fakten noch lange nicht, daß Autobiographisches im Rohzustand in die literarische Arbeit eingeht. Denn so einfach ist die Sache dann doch nicht.
     Leben heißt nicht bloß Zeit verzehren, sondern auch das überwinden, was sich in der Zeit ereignet; soviel wir erleben, soviel müssen wir verarbeiten. Darin stellt der Schriftsteller keine Ausnahme dar; allein um seine Erlebnisse zu verarbeiten nimmt er einen Umweg, der ihn weit vom eigenen Leben führt. Nichts ist unmöglicher, als das Erlebte direkt, sozusagen noch unverdaut erzählerisch zu erfassen; und wie kein Roman ganz frei von Autobiographischem ist, so ist auch keine Autobiographie frei von Romanhaftem. Denn indem man das eigene Leben literarisch zu bewältigen sucht, verschiebt sich das zu bewältigende Objekt - der Schriftsteller will jetzt nicht mehr einfach mit einer existentiellen Krise fertig werden, sondern ein aus Worten gefügtes Werk hervorbringen. Manchmal hat er zwar Glück, wie Goethe, der mit seinem Werther gleichzeitig ein Meisterwerk schafft und sein eigenes Trauma verdrängt; manchmal aber erkrankt der Dichter an seinem Epos, wie Torquato Tasso und manche andere.
     Sechs Jahre habe ich also auf dem Göltenhof verbracht: und neben den Wechselfällen meines seelischen Lebens nahmen auch die neuen, kleinen Beobachtungen des Alltagslebens auf dem Land eine wichtige Rolle ein; insbesondere der Landschaft bin ich nie müde geworden, auch der Agrarlandschaft. Das alles wirkte auf mich wie eine späte Entschädigung für mein italienisches Großstadtleben. Hier hatte ich also in greifbarer Nähe einen ganz neuen Stoff für meine literarischen Versuche. Themen ändert man natürlich nicht ebenso leicht, aber Farben, Gerüche, Wahrnehmungen, ja Gefühle waren neu und verlangten nach literarischer Verwertung. Dazu kam noch das würdige Alter des Hauses, in dem ich wohnte: über der Haustür steht neben dem Namen des ersten Besitzers das Baujahr: 1811. Einfache Recherchen ergaben, daß mein Wohnzimmer früher der Stall war, die Zimmer im ersten Stock, so wie noch heute, die Schlafzimmer waren, und daß sich darunter Küche und Webstuhlzimmer befanden.
     Bis jetzt hatte ich aber nur die Szenerie, in der meine Phantasie sich schon zu bewegen anfing, doch noch keinen Erzählstrang. Dieser kam zwar auch aus dem Erlebten, aber aus einer viel tiefer liegenden Schicht des Erlebten, aus Gedanken und vielleicht Obsessionen, deren Ursprung keiner durchschauen kann und die wahrscheinlich eins sind mit der eigensten Susbtanz eines Individuums. Aus diesem tiefen Brunnen der Persönlichkeit kommt irgendwann wie von selbst eine Idee an die Oberfläche; eine lose Idee meistens, auf deren Folge erst geduldig gewartet werden muß… Diese Idee war also die einfache, schmucklose Vorstellung eines Kindes, das mit einem unwiderstehlichen sprachlichen Talent auf die Welt kommt. Das Kind, ein Junge, entwickelt bald dieses Talent in literarische Richtung, schreibt seine ersten Gedichte, die, obwohl absolut gesehen noch unreif, für sein Alter jedoch erstaunlich gut sind. Zur vollen Entfaltung kommt der Junge nie, weil er daran gehindert wird. Soweit der allererste Einfall. In der Art des Hindernisses ließ dann die Phantasie der Überlegung ihren gebührenden Spielraum: ich konnte zwischen materieller Not, Krankheit oder auch dem Tod wählen. Ich weiß noch sehr genau aufgrund welcher Gedanken ich meine Wahl traf: Ich überlegte, mit welchem großen Überfluß die Natur ihre Zwecke verfolgt, wie sie Millionen von Samen streut, um das Fortleben einer einzigen Pflanze zu sichern, Milliarden von Spermatozoen, um ein einziges Menschenleben zu zeugen; es wäre undenkbar, daß sie ausgerechnet mit literarischen Genies anders verfahren würde! Mein junges Naturtalent würde also am Überfluß der Natur untergehen.
     Ich fragte mich anschließend, wann mein junger Held überhaupt leben sollte? Wenn er gleich nach dem Bau des Hauses 1811 geboren wäre, würde er in einer Zeit politischer und sozialer Unruhen leben, was dem geschichtlichen Hintergrund der Erzählung ein viel zu starkes Gewicht geben würde. Er mußte früher leben, noch vor den napoleonischen Kriegen, die das Hohenloher Fürstentum sowie viele andere Kleinstaaten aus ihrer lethargischen Isolation herausrissen. Geboren wird er also 1770, im selben Jahr wie Hölderlin, Hegel, Beethoven… Ein gutes Jahr! Unterdessen bekam ich zufällig Kenntnis von der Legende über die Errichtung der Kirche von Kirchensall, dem nächstliegenden Dorf, anderthalb Kilometer vom Göltenhof entfernt. Eine hübsche Geschichte, die eines Jacobus a Varagine würdig wäre, und die ich im Prolog zum Roman aufgreife: Dreimal hintereinander fanden Bauern, Steinmetze und Zimmermänner das Baumaterial nicht mehr dort, wo sie es zum Kirchenbau am Vortag abgelegt hatten, nämlich in der Ortschaft Langensall, sondern im damals nur 7 Hütten umfaßenden Weiler von Salle, der infolge dieses offenbaren Wunders die Kirche bekam und seitdem Kirchensall heißt. Ich erfuhr noch, daß 1769 die nunmehr klein gewordene Kirche ausgebaut wurde, wobei es zu Streitigkeiten zwischen Kirchenrat und Bauern kam, die jetzt viel weniger zu den schweren Fronarbeiten bereit waren als 500 Jahre zuvor. Die neue Kirche hat also noch nicht ihre schönen bemalten Fenster bekommen, als mein Held geboren wird. Wo der Junge, der übrigens Abel heißt, leben würde, stand wie gesagt von vornherein fest: auf dem Göltenhof. Er würde also ein Bauernsohn sein. Das erforderte selbstverständlich weitere Recherchen über Ackerbau und Bauernleben im 18. Jh., die mir die Werke des damals berühmten Hohenlohischen Pfarrers Mayer, eines Befürworters des Kartoffelanbaus und der Begipsung der Felder, und das vortreffliche Freilandmuseum Wackershofen erheblich erleichtert haben. Daß nun ein Bauernsohn eine so starke Neigung zum Literarischen hat, enthält schon zumindest im Kern ein dramatisches Element. Die Geschichte fing an, sich in meinem Kopf zusammenzufügen. Die Widrigkeiten, die der Entwicklung Abels im Weg standen, waren leicht zu finden: er stößt auf das Unverständnis seiner Umgebung, insbesondere seines älteren Bruders Uli; dazu ist er körperlich schwach und wenig tauglich für die Feldarbeit.
     Was die eigentliche Erzählung vorantreiben sollte, war das Auftreten der zweiten Hauptfigur des Romans: des Pfarrers, der gleichzeitig nach dem Tod des alten Schulmeisters auch Schullehrer wird. Er mußte das Talent von Abel entdecken und fördern; in ihm war auch ein weiteres mich stark interessierendes Element enthalten: das Luthertum; denn der Pfarrer von Kirchensall war und ist evangelisch. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist am Anfang weder selbstverständlich noch idyllisch: Abel wirkt abwesend in der Schule sowie zu Hause, verfolgt nicht richtig den Unterricht, sodaß der Pfarrer zuerst glaubt, Abel sei schwachsinnig; Schwachsinnige hat er schon viele gesehen und nicht besonders bemitleidet, aber sieh da, in diesem Fall kann er sich damit nicht abfinden, er leidet unter dem vermeintlichen Schwachsinn des kleinen Abel. Erst als er das erste fehlerfrei geschriebene Blatt des Kindes zu sehen bekommt, ändert er seine Meinung und geht dann darin soweit, daß er an die Genialität Abels zu glauben beginnt. Daraufhin bittet er die Eltern, ihm Privatunterricht geben zu dürfen, und er fängt an, dem erst Siebenjährigen Latein, Geschichte, Geometrie, später auch Rhetorik, Logik, Griechisch, Musik beizubringen. Damit entwickelt sich eine engere Beziehung zwischen den beiden, die später noch vertrauter wird, als Abels Vater Selbstmord begeht und der Junge ins Pfarrhaus einzieht. Später wird er wieder ausziehen, um das Gymnasium Öhringen zu besuchen und seinem Ende entgegenzugehen.
     Soweit also war die Handlung schon zusammengesetzt; aber ich vermißte noch etwas und wußte nicht was. Es waren nicht die Nebenfiguren, die ich hier ausgelassen habe, die aber schon zahlreich genug waren (von der Magd Christa bis hin zu den zwei Knechten, dem Küster und seiner Frau und den Schulfreunden Abels); es waren auch nicht die möglichen Höhepunkte des dramatischen Gewebes, die schon vorgesehen waren, angefangen mit den Erzählungen und der Erkrankung Christas und mit der Geburt und dem raschen Tod einer kleinen Schwester bis hin zur ersten Verliebtheit und zum Tod des Vaters; es war etwas anderes, was mir noch fehlte: Der Bezug zu Italien. Ich sah verhältnismäßig früh ein, noch bevor ich mit der Niederschrift begann, daß es für mich doch unmöglich sein würde, einen ganzen Roman auf Italienisch zu schreiben, ohne daß außerhalb der Sprache ein weiteres italienisches Element darin wäre. Es war ein Gefühl der Notwendigkeit, dem ich mich nicht widersetzen konnte noch wollte. Ich lebe ja zwischen zwei Realitäten und kann auf keine der beiden ganz verzichten. So erhielt mein Pfarrer eine katholische Vergangenheit: Er wurde als Sohn eines katholischen Handwerkers im württembergischen Weinsberg, nicht weit von der damaligen Grenze Hohenlohes geboren, hatte dann einige Jahre in Köln Theologie studiert und von dort war er auf Drängen des Erzbischofs nach Rom gegangen, wo er neun Jahre als Sekretär eines Kardinals gelebt hatte. In Rom lebt er eigentlich gut, sein Kardinal gewinnt ihn lieb, unterhält sich mit ihm, fördert seine Interessen; er zelebriert seine Messe, arbeitet im düsteren Palast der Cancelleria, macht lange Spaziergänge, liest die italienischen Klassiker; und doch ist es ihm nicht genug. Die Krise naht sich, ein Vers von Petrarca, der ihm plötzlich an einem schönen Sommertag am Strand von Ostia einfällt, «là sotto i giorni nubilosi e brevi», da unter kurzen Nebeltagen, weckt in ihm das, was zuerst nur eine Art Sehnsucht zu sein scheint; und der Drang, den er spürt, wieder weg von Rom zu müssen, wird ihm allmählich zum Beweis der Unfreiheit des menschlichen Willens. In seiner Wohnung liest er nun fieberhaft drei Werke Luthers, die ihm der dänische Maler Peder Als gegeben hat (eine historische Figur, die ein heute verschollenes Porträt von Winckelmann malte), darunter die Auslegung des Buchs Jonas, dessen Sätze sich variationsartig mit seinen Gedanken vermischen und ihn zum Entschluß treiben, Rom zu verlassen und zum Protestantismus zu konvertieren. Eine junge Frau, in die er sich verliebt hat, hat zwar auch Anteil an dieser seiner Entscheidung, aber das ist im Grunde nur ein Beweis mehr dafür, daß sein Wille nicht frei ist…
     Jetzt also, verheiratet in Kirchensall angelangt, kann er seinem Schüler Abel, nebem dem Lateinischen und noch vor dem Griechischen, das Italienische beibringen. Abel lernt schnell, saugt alles auf, sein erstes Sonett ist eine deutsche Imitation des Sonetts an den Tod von Tasso. Jetzt können die beiden in den Nachmittagsstunden des Unterrichts sich über die Dunkelmännerbriefe und über Goethes Werther, über Guicciardini und über Giordano Brunos Ende sich unterhalten. Hier wirkt übrigens die strenge zeitliche Begrenzung, die ich mir selbst auferlegt habe, sehr einengend; aber dafür, was für ein Observatorium der Geschichte! Auf der Schwelle zum Trubel des modernen Zeitalters, aber von diesem noch unberührt; mitten in der Aufklärung, noch nicht ahnend den Ausbruch des Klassenkampfes und des modernen Nationalismus, noch weniger die nationalsozialistische Barbarei. Schwerwiegende Fragen an die deutsche und europäische Geschichte werden in diesen Nachmittagsstunden aufgeworfen, nicht aber jene tragisch-unvermeidliche, ob die Nazizeit unvermeidlich kommen mußte; Nichtsdestoweniger fragt sich mein Hohenlohischer Pfarrer gewissenhaft, «Che cosa accadrà quando i nostri bravi tedeschi, tenuti finora nella bambagia dai loro paterni sovrani, saranno scaraventati nella grande storia?»: Was wird geschehen, wenn unsere wackeren Deutschen, bis heute wohlbehütet von ihren fürsorglichen Landesvätern, in die große Geschichte hineingeworfen werden? - Mehr kann er 1785 nicht fragen; Ebenso verschlüsselt muß ein Leopardisches Zitat am Ende des Romans bleiben.
     Man mag sich fragen, weshalb ich die Handlung so weit in die Vergangenheit zurückverlegt habe. Da kann ich nur antworten, daß es dem Schriftsteller freisteht, wie er am besten die nötige Distanz zu seinem Erzählstoff erreichen will. Übrigens erzählen wir doch immer nur die Gegenwart, d. h. das, was uns jetzt bewegt; andererseits ist nicht umsonst die grammatische Zeit jedes Erzählens die Vergangenheit, selbst da, wo Gegenwärtiges erzählt wird: Wir bewältigen das Unberechenbare der Gegenwart, indem wir es als schon vergangen darstellen. Das Vergangene ruht und beruhigt, und das ist die heilende Wirkung der erzählenden Distanz.


(Am 23. Januar 2004 für die Nürnberger Dante-Gesellschaft gehaltene Rede)

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