Die Wut der Welt - Text 4

     Das ganze Haus lag noch in tiefem Schweigen; von draußen wehte mit der Luft der träge Bronzeklang der Glocken herein, der ihn in seiner Bettkuhle vom Schlaf in ein laues Erwachen versetzte; durch seine Augenlider sickerte das milchige Schimmern des Tages; er lauschte noch den immensen Klang-tropfen, die sich in Abständen langsam und vibrierend lösten und nach Orbishof hin schallten, bis zum Wald von Orendelsall, bis wer weiß wohin… Er liebte diese Glockenschläge, die dem Sonntagsschlaf der Familienangehörigen und der Dienstboten nichts anhaben konnten, während sie ihm Momente einer versunkenen, jeder Pflicht enthobenen Betrachtung schenkten. Keine Bilder, keine Gefühle, es waren Abstraktionen des Gefühls, die sich in ihm öffneten, Atmosphären, Stimmungen; bis etwas in ihm die Oberhand gewann, eine gegenstandslose Sehnsucht, ein Ansporn zu suchen, in sich selbst, nicht außerhalb, doch hätten ihn die alten Kindheitsphantasien nicht befriedigt, sie tauchten gar nicht auf, es war ein tiefgehenderes Bedürfnis, Worte in seinem Geist, die sich nicht mit einem erlebten oder vorgestellten Augenblick verbanden, präzise, aber in einer Ordnung, die nicht die ihre war, er war es, der diese Ordnung finden und ihnen geben musste: Leben, Hoffnung, Leben, das sich von Hoffnung nährt, mein Leben, meine Hoffnung; so nicht, dies war nicht die Reihenfolge, in der sie hätten zur Ruhe kommen können, sie klangen noch nicht, das innere Ohr verfolgte etwas, nur die Hoffnung, nein, allein die Hoffnung - jetzt hatte er es: Die Hoffnung nun ernährt allein mein Leben.
     Aufatmend überkam ihn erste Ruhe. Die Worte klangen. Doch war es nicht genug, es war ein Gedanke, der im Leeren hing, ein Kopf, dem der Körper fehlte. Man musste der Sehnsucht einen Körper geben, aus den ersten Worten weitere ableiten und sie dann verbinden. Er stieg aus dem Bett und griff zu dem schwarzen Heft mit roten Ecken, in das er ab und zu Satzentwürfe notierte; er nahm es und schrieb mit Bleistift seinen Vers hinein, Die Hoffnung nun ernährt allein mein Leben; doch was war die Hoffnung, es musste doch ein Bild dafür geben, die Tasten des Klavichords in Erwartung der Hände, die ihre Substanz zum Klingen brächten, es waren Annettes Hände, und deshalb beneidete er die Tasten, doch wollte er sie nicht nennen und bezeichntete sie als hölzerne Kobolde und schrieb ihnen eine Klangseele zu, auch er hätte klingen mögen wie sie… Ihm war, als wühle er in seinem Gehirn wie in einer Truhe voller Wäsche, wenn man sortiert und tastet, bis die Hände dem begegnen, was sie suchen; wenn er nur hartnäckig weiter dachte, mit dem Willen zu finden, zeigten sich die Worte schließlich nach einer mehr oder weniger intensiven Zeitspanne, und dann konnte er sie aneinander reihen, ersetzen, verschieben, bis jeder Vers klang und mit dem Echo des Reims einem vorherigen oder einem folgenden entsprach; die Idee zog sich hindurch von Bild zu Bild, doch unvermutet wechselte sie die Farbe, die Worte Tassos, E toccherei di morte a me gradita, Se non posso d'amor, le mete estreme, diese italienischen Worte machten ihn schaudern, aber nicht vor Schrecken, es war eher Aufregung über die harte Alternative zwischen Liebe und Tod; der Tod war dem, was er fühlte, noch fremd, dennoch, le mete estreme d'amore, wenn er dafür deutsche Worte fände, würde er sie sich zu eigen machen… vielleicht der Liebe letztes Ziel, so, ja, rasch hielt er sie auf dem Papier fest, bevor sie in das Magma der anderen Wörter zurückfielen, und suchte den Reim, den letzten, um das Sonett abzu-schließen, hier half Tasso ihm nicht mehr, er musste allein zurechtkommen, aber konnte man denn ein letztes Ziel anstreben? War das nicht zu viel für eine gänzlich abstrakte Liebe, die nur aus dem Klang von Worten bestand? Und galant, beinahe ritterlich schrieb er: Wenn mein Verlangen nicht zu viel.
     Das Sonett; vierzehn Verse aus Worten, die in ihm erklungen und nicht ausgesprochen worden waren. Schreiben, schien ihm, war zwar nicht einfacher, aber weniger riskant als Sprechen: ein Sprechen ohne die Befangenheit zu wissen, dass jemand zuhört, und dabei eine unbestimmte Zeit zur Verfügung haben, um die Gedanken zu ordnen; noch mehr Zeit hatte er dann - hatte er jetzt - um alle Reime und Betonungen zu überprüfen; er zählte die Silben jeden Verses, ging die Bilder durch, die sich entfalteten, ununterschieden von den Worten, in einer einzigen Idee, die die vierzehn Verse des Gedichts durchwehte. Ein echtes Gedicht. Das hatte er gemacht.


(Aus La furia del mondo, Feltrinelli, Milano 2006, S. 241-242. Deutsch von Maja Pflug; © Cesare De Marchi)

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