Il talento

Mit Il talento, dem 1997 bei Feltrinelli, Mailand erschienenen Roman, schaffte Cesare De Marchi den Durchbruch: im folgenden Jahr war das Buch Finalist bei sechs literarischen Wettbewerben Italiens und wurde bei den zwei renommiertesten (Premio Campiello, Venedig; Premio Comisso, Treviso) preisgekrönt.
     Il talento hat die Form einer Ich-Erzählung. In einem fließenden, brillanten, oft paradoxen Stil beschreibt Carlo Marozzi sein Leben im Mailand der Nachkriegszeit bis heute: «Ich kam als viertes von drei Kindern in einer leidlich unbegüterten Familie zur Welt», so lautet der vielzitierte Anfang dieses Romans. Es ist Carlo, der spricht und das Spiel des literarischen Textes beherrscht, das sollte man nicht vergessen, wenn in dem Buch von seinem Kindheitstrauma, von seinem Übersehenwerden innerhalb der Familie, von seinen widrigen Startbedingungen, von seinen Frauen sowie von seiner Unschuld berichtet wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Carlo die Fakten aufbauscht oder bagatellisiert, verschweigt oder erfindet, wie es ihm gerade paßt; manchmal verstrickt er sich so sehr in seine fiktive Darstellung, daß er zwei verschiedene Versionen derselben Episode nacheinander bietet. Nur in einem Fall ist er ganz und gar aufrichtig, nämlich in der liebevollen Beziehung zu seinem mongoloiden Bruder Sandro , den er mit einem traurigen Wortspiel «il mio fratello maggiore-minore» (meinen älteren-jüngeren Bruder) nennt.
     Carlo Marozzi scheitert im Gymnasium; daraufhin versucht er sich als Warenverpacker, als Korrekturenleser für Lexiko- und Pornographie, als Schuldiener und Schneckenzüchter. Ein lukrativer Gewinn im Spielcasino beschert ihm vorübergehend ein angenehmes Leben, dann nimmt das Übel seinen Lauf: Carlo verliert seine Wohnung und seine Ehefrau, kommt anschließend sogar ins Mailänder Gefängnis San Vittore (wo er seine Geschichte, also diesen Roman niederschreibt), um am Ende, in einem Moment der Verzweiflung, ein starkes Schlafmittel zu schlucken, seine «unerhörte» Tat aber sofort zu bereuen und mit seinen letzten Kräften das Rote Kreuz anzurufen. Er nimmt also seinen Freitod sozusagen zurück, wie es seinem Charakter entspricht.
     Die Kritik sprach bei Il talento von einem Schelmenroman, aber auch von Bildungsroman. Hinrich Hudde leitete 1998 De Marchis Lesung in München mit folgenden Worten ein: «Die italienische Literatur hat endlich einen echten Schelmenroman aufzuweisen, die Geschichte eines modernen Großstadt-pícaro. (...) Carlo Marozzi ist ein pícaro, nicht der Held eines Bildungsromans; diese Romanform, in der deutschen Literatur blühend, werde hier höchstens parodiert (so der Autor, mir gegenüber, mit Recht ‒ die italienische Kritik spricht, meine ich, zu viel von romanzo di formazione und viel zu wenig von pícaro).» Vorsichtiger geht Georg Maag («Horizonte», 1999) mit der Klassifizierung dieses Romans um: «In keine der von der Literaturkritik bemühten Kategorien fügt sich Il talento jedoch umstandslos ein. Das Prinzip der zunehmenden Witzigung des Pikaro wird durch die konstitutive "inettitudine" (Unfähigkeit) Carlo Marozzis relativiert, so daß es angemessener erschiene, von einer Überschneidung mehrerer literarischer Traditionen zu sprechen».
     Zum Stil dieses Werks sei noch einmal Hinrich Hudde zitiert: «De Marchis Stil hat einen ansprechenden Rhythmus; die Sätze bilden oft größere Bögen, die den Leser weitertragen. Der Roman ist in einer registerreichen, oft eleganten, komplexen Sprache gehalten, die auch gehoben-raffinierte Töne kennt». Eine «lyrische Ader» glaubt Marzio Pieri («Zibaldone», 27, 1999) entdecken zu dürfen, wobei «das Lyrische hier eher zur Asche, (...) zur Trostlosigkeit» wird. «Die langsame Agonie des mongoloiden Bruders oder das Massensterben der vom Hunger getriebenen Schnecken wird man schwerlich vergessen. Furchtbare, aufwühlende Metaphern. Da braucht man sich nicht zu schämen, wenn einem diese von einer ironischen, insgeheim komischen und äußerst wachen Intelligenz hervorgebrachten Seiten ans Herz greifen». Mario Barenghi (Oltre il Novecento, Marcos y Marcos, Milano 1999, S. 25) bezeichnet die Erzähltechnik De Marchis als "ein scharfes, philosophisches Seziermesser". Zuletzt (2013) hat Luigi Gussago diesem Roman einen Essay gewidmet, Self-indulgent Isolation: A Contemporary Pícaro in Il talento by Cesare De Marchi (in «Rivista di Studi Italiani», XXXI, n° 1, pp. 361-383).  

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