Fuga a Sorrento - Text 3

Das Schlimmste sollte aber noch kommen, als er kurz darauf halb zufällig, helb beim unvermeindlichen Umherschweifen der Augen vom Suppenteller zur gegenüberliegenden Wand hob und dort ein primitives Gemälde mit dem üblichen Wilhelm Tell sah, der gerade den Pfeil abgeschossen hatte und den Apfel auf dem Kopf seines Sohns durchbohrt hatte, welcher in der seelenruhigen Haltung eines heiligen Sebastians still dastand; und so weit mochte es noch angehen, war es in der Schweiz doch derart selbstverständlich, überall, wohin man den Fuß setzte, Exemplare solcher phantasievollen Ikonographie anzutreffen, daß keiner von ihnen noch weiter darauf achtete; das Unerhörte aber war, daß in einem dunklen, düsteren Rahmen gleich unter diesem vorhersehbaren Bild der Stich eines Kopfs aus dem vergangenen Jahrhundert hing, genaugenommen sogar von vor nicht mehr als dreißig Jahren, ohne Perücke, zwei weiße Haarwülste über den Ohren, noch ganz dunkle Augenbrauen, Nase und Kinn markant, idealisiert strenger Blick.
     «Und der da? [...] Ich bitte Sie, was hat der hier zu suchen?» Auf die verständnislosen Blicke der beiden Assistenten hin hob er die Stimme: «Ist das nich Washington?»
     Köterhink förte auf zu kauen und schob den Bissen in die Backe, die Hegel nicht sehen konnte: «Ich hab nie ein Porträt von Washington gesehen; kurios wär's freilich, ausgerechnet hier, mitten in dieser abgelegenen Gebirgsgegend...»
     «Nein, es ist Washington, ohne den geringsten Zweifel», sagte Hasenhertz, der denselben oder einen ähnlichen Stich hinter dem Titelblatt eines englischen Buchs gesehen hatte.
     «Sage ich es doch», meinte Hegel, so zufrieden, richtig gesehen zu haben, wie empört über das, was er gesehen hatte. «Ist dieser Washington schon zum Symbol geworden, zum Idol, daß man ihn einrahmt und an die Wand hängt, vor aller Augen? War ihnen ihr Tell denn nicht genug?»
     «Da verschlägt's einem wirklich die Sprache», bekräftigte Köterhink.
     «Ja, ja, lassen Sie sich nur die Sprache verschlagen; ich indes möchte bloß wissen, wer sich die Mühe macht, dieses widerwärtige Gesicht in Europa zu verbreiten, mit dem klaren Willen, eine neue Abgötterei herbeizuführen; nun ja, jetzt, wo Napoleon besiegt ist und tot, brauchte man Ersatz, der freilich selbst auch schon eine ganze Weile tot ist. Immerhin hat er nicht den alten Kontinent mit Feuer und Schwert verwüstet, sondern sich damit begnügt, jenseits des Ozeans den Teufel rauszulassen, wobei er übrigens nicht nur Engländer abgeschlachtet hat, sondern auch etliche Deutsche... Schauen Sie mich nicht so an, Hasenhertz, Sie werden doch wissen, daß viele unserer Landsleute im Krieg dort gefallen sind!»
     «Natürlich weiß ich das, Herr Professor», sagte er und bezwang ein Zögern: «Doch diese Unglückseligen, verzeihen Sie, es gibt ja nicht mal eine Bezeichnung für sie: Sie waren weder Soldaten noch Söldner... von ihren vermeintlichen Landesvätern gefangengenommen und an die Engländer verkauft, als Schlachtvieh eben; den amerikanischen Siedlern blieb im Kampf ja leider kaum eine Wahl...»
     «Hören Sie, Hasenhertz, ich will hier nicht die kleinen deutschen despoten verteidigen und schon gar nicht England: dem gehörte längst die Quittung präsentiert für die liberalen Gifte, die es seit über hundert Jahren über die Welt gestreut hat. Aber um auf Washington zurückzukommen, sagen Sie mir doch, was für ein Mensch war er, daß man ihn zum Idol machen will! Tüchtiger Landwirt, als General wechselhaft, als Politiker miserabel: Das wissen sogar die Steine...», er flocht eine Pause, ein kurzes Schweigen ein, um der nachfolgenden geopolitischen Anspielung mehr Nachdruck zu geben: «Und an Steinen fehlt's hier wahrhaftig nicht. Von seinen Fähigkeiten als Landwirt brauchen wir hier gar nicht zu reden, und was seine mehr als zweifelhafte militärische Begabung angeht, sagen wir mal, hat die Blindheit des Schicksals und die aufrührerische Wut der sogenannten Amerikaner sie wieder wettgemacht. Als Politiker aber war er dermaßen unfähig, daß er, als die Offiziere seines Heers ihm die Krone anboten, diese ablehnte; und das läßt sich nicht einmal damit entschuldigen, daß man anführt, er sei nicht ehrgeizig gewesen, denn in diesem Fall hätte er das Präsidentenamt ja auch ablehnen müssen.»
     Neue, bedeutungsschwere Pause.
     «Und was ist also die Wahrheit?», fragte schließlich Köterhink.
     «Die Wahrheit, Köterhink! Die Wahrheit ist, daß er Republikaner war. Womit sich unser Idol die Verantwortung aufgeladen hat, Nordamerika daran gehindert zu haben, in die Weltgeschichte einzugehen, nichts mehr und nichts weniger: Jawohl, denn so hat er es in der Form einer Föderation erstarren lassen, will heißen eines noch nicht fertigen und ausgereiften Staats, der als Solcher unfähig ist, überhaupt das Bedürfnis des Königtums zu haben.»
     «Herr Professor Hegel, gestatten Sie, ich glaube, ich verstehe nicht ganz... Hat Amerika denn mit der Erklärung von Philadelphia nicht im Guten wie im Schlechten den Lauf der Geschichte verändert? Was meinen Sie also, wenn Sie sagen, daß es in die Weltgeschichte nicht einmal eingegangen ist?»
     «Ja, bravo, unser Hasenhertz! Herzlichen Glückwunsch, wirklich brillant, scharfsinnig, das muß man ihm lassen!» Gefurchte Stirn, aus der Lidhaut herausquellende Augen: «Schade, daß der Kern dieses berühmten Gewäschs von Philadelphia nichts ist als das trivialste und unausgegorenste Naturrecht! Dabei glaubte ich die Naturrechtslehre, philosophisch gesprochen, ein für allemal begraben zu haben, genau so wie ich glaubte, daß der Weltgeist es nicht nötig habe, sich von einer Versammlung ungebildeter Siedler belehren zu lassen, die nur dazu taugen, Büffel zu weiden und Rothäute niederzumetzeln, und jetzt ihr Kinderspiel mit der Philosophie treiben wollen! und die Neuerungen, mit denen sie daherkommen, sind in jeder Hinsicht ihrer würdig: unveräußerliche Menschenrechte... als ob es ein Recht jenseits und außerhalb des Staates geben könnte, als ob der Mensch anders Mensch sein könnte als unter der Herrschaft eines Staates. Aber was wundert's einen, ist für diese Leute der Staat doch wie ein haus, das man mietet und vermietet, Gegenstand eines Vertrags; natürlich auch mit der dementsprechenden Auffassung der Freiheit: die große Freiheit, kein Stempelpapier und keine Zollgebühren bezahlen zu müssen: Kurzum egoistische Willkür anstelle des die Allgemeinheit zum Inhalt habenden Willens, eine bekannte, von meiner Wenigleit vorgebrachte Torheit...»
     Er hatte sich in seinen Sarkasmus verbohrt, war ernst geworden und hatte heftig zu schnaufen begonnen. Hasenhertz merkte, daß er nicht weiter insistieren sollte, aber seine Unzufriedenheit war zu stark, er konnte damit nicht zurückhalten, ohne sich Luft zu machen.
     «Ich kenne und teile natürlich Ihre Theorie, Herr Professor, sonst hätten Sie mich in Berlin und auf dieser Reise ja nicht bei sich haben wollen. Trotzdem wage ich zu glauben, daß eher diejenigen engstirnig und von egoistischer Willkür waren, die den Siedlern die neuen Steuern aufhalsen wollten, als diejenigen, die sich weigerten, sie zu akzeptieren...»
     «Beide, Hasenhertz, alle beide»
     «Verzeihen Sie, wer sich aus einem Joch zu entziehen sucht, verteidigt seine Freiheit, während derjenige, der es ihm aufzwingen will, sie unterdrückt.»
     «Ist Ihnen denn nicht klar, daß Sie auf diese Weise jeden Akt der Rebellion rechtfertigen?»


(Aus Fuga a Sorrento, Feltrinelli, Milano 2003, S. 140–144. Deutsch von Renate Heimbucher; © Cesare De Marchi)

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