Romanzi. Leggerli, scriverli
und
L'arte di raccontare

Der erstere im September 2007 im Verlag Feltrinelli erschienene Essay (dem 2013 L'arte di raccontare folgte) vertieft und verbindet die Themen vieler Vorträge, die Cesare De Marchi seit 1999 gehalten hat. Er ist ― mit den Worten des Autors ― «eine freie, offene, ehrliche Reflexion» über das literarische Genre des Romans: er will nicht «eine x-te Romantheorie» sein, sondern eine Zusammenschau von Betrachtungen, die abwechselnd den Standpunkt des Lesers und des Autors einnehmen.
     Romanzi. Leggerli, scriverli befaßt sich mit der überraschenden Tatsache, daß die Romane, diese Gegenstände aus bedrucktem Papier und «imaginärer Substanz», die Macht haben, Menschen, egal welches Alters oder aus welchem kulturellen Niveau, allein durch die Kraft der Worte für Stunden aus der Wirklichkeit zu reißen. Denn ein Roman (und die Offensichtlichkeit dieser Feststellung tut ihrer Bedeutung keinen Abbruch) «besteht ausschließlich aus Wörtern», er ist «eine Sprachbewegung» («un movimento di parole») ― und das im selbstverständlichsten Sinne, daß der Schreibende und später der Lesende sich den ganzen Text entlang von einem Wort und von einem Satz zum anderen bewegen. Die Folgen dieser Vorstellung sind zahlreich und werden in den acht Kapiteln des Buches ausgeführt.
     Jeder Text stellt eine verbale Bewegung dar, aber während z. B. philosophische oder wissenschaftliche Texte eine Erzählspannung nicht benötigen, weil sie durch logische Verkettung den Leser weiterziehen, ist die spezifische Sprachbewegung des Romantextes erzählerisch, und da die Erzählung immer Erzählung von etwas ist, wird es immer einen faktischen (oder eher pseudofaktischen) Erzählgegenstand geben. Dies ist aber auch das einzige unverzichtbare Bindeglied des Romans mit der Wirklichkeit. Selbst wenn der Roman einen realistischen Anspruch erhebt, stellt er nur zu einem geringen Teil die Realität dar; er schließt vielmehr in seinem Sprachgewebe eine Art, sie zu sehen und zu empfinden ein. Auch da, wo die Lektüre die Hilfe eines mentalen Bildes zu verlangen scheint (wie in der berühmten Beschreibung am Anfang von Manzonis Promessi sposi), ist das Auge, das der Romancier und mit ihm der Leser der Welt zuwendet «ein sprachliches Auge». Lesen ist kein Tagträumen. Dort, wo die Visibilität der Beschreibungen, die Darstellung der Figuren und ihrer Stimmen in den Dialogen, die Zeitstruktur und die Stellung des Erzählers im Roman untersucht werden, kommt dieser Essay mehrfach zu dem Schluß, daß «im Roman alles Wort ist, vom Ort der Handlung bis hin zur Handlung selbst und zum Gedanken». Der naive Leser wird sich vom äußeren Ablauf der Handlung gefangen nehmen lassen, während der bewußte Leser allein in der sprachlichen Entfaltung der Erzählung jene zweckfreie Emotion findet, worin literarischer Lesegenuß besteht.
     Aber, wenn die erzählten Dinge keine sachliche Beschreibung sind, wenn diese außerhalb der Wörter, die sie erzählen, nicht existieren, dann läuft auch die Aufgabe des Übersetzers Gefahr, aussichtslos zu sein, wie das interessante 7. Kapitel des Buches darlegt. Schließlich ergibt sich aus der klaren Trennung von Roman und Realität auch noch eine letzte Schlußfolgerung: daß das einzig mögliche Engagement des Erzählers das Erzählen ist, und nichts anderes.

In L'arte di raccontare (Edizioni di storia e letteratura, Roma 2013) greift De Marchi dieses Thema wieder auf, vertieft einige Aspekte aus dem Essay von 2007 und fügt einen komplett neuen Teil über «die Mode und die Veränderung» in der Literatur hinzu. Dieser neue Text setzt sich mit der Erzählstruktur des Romans auseinander und zeigt mit äußerster Klarheit, wie Letzterer sich, ausgehend von den lexikalischen, syntaktischen, metaphorischen sowie Handlungsgrundelementen zusammensetzt, und wie daraus die «Sprachbewegung» entsteht, die den Leser in einen Zustand der «literarischen Emotion» versetzt (oder nicht versetzt), die sich wiederum grundlegend von der physiopsychologischen Emotion des wirklichen Lebens unterscheidet. Im letzten Kapitel mangelt es nicht an kritischen Bemerkungen über die Avantgarde, die Postmoderne und die letzten Tendenzen der Erzählkunst. Es wäre zu wünschen, daß beide Essays dem Publikum in einem einzigen Band präsentiert würden.





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