La malattia del commissario

La malattia del commissario, 1994 bei Sellerio erschienen, war schon 1990 in einer wenig abweichenden Fassung anläßlich eines Literaturpreises für unveröffentlichte Werke bei der Cooperativa Italiana Librai gedruckt worden, blieb von der Kritik allerdings kaum beachtet. Erst nach 1994 wurden diesem Schein- oder Anti-Kriminalroman (der 2002 in französischer Übersetzung bei Gallimard/L´Arpenteur erschienen ist) Besprechungen und Interviews gewidmet. Als erster wies Aurelio Minonne in «L´Unità» (18.4.1994) auf die «strenge und würdevolle, aber auch anregende und wirklich neue Prosa» De Marchis hin.
     Georg Maag faßte das Buch in «Horizonte» (1999) folgendermaßen zusammen: «Für den an einer Krankheit im metaphorischen Sinn, nämlich an der Unerklärlichkeit des Bösen in der Welt und dem Zweifel an seiner schieren Möglichkeit leidenden Kommissar Leandri, der den Mord – oder war es Selbstmord? – an seiner ehemaligen Klassenkameradin Enza Gorla aufzuklären hat, gerät die Ermittlung im Kreise der tatverdächtigen Personen zu einer irritierenden Konfrontation mit der eigenen Generation, zu einer "Höllenfahrt". Allesamt sind sie einstige Mitschüler, allesamt haben sie sich als Studenten der Protestbewegung der sechziger Jahre verschrieben. Die Investigation führt Leandri nicht zur Aufdeckung des Täters, sondern zur schmerzlichen Erkenntnis dessen, was aus seiner Generation am Ende der Revolte geworden ist».
     Ähnlich, obwohl eher mit Blick auf die sozialen Zustände Italiens, hatte Titus Heydenreich bemerkt (in Poesia cantata, hrsg. von Frank Baasner, Tübingen 1997): «Der Kommissar Luigi Leandri setzt die schon beachtliche Reihe der "scheiternden Detektive" fort: Der Mörder wird nicht gefunden, die zunehmend sinnlose Befragung Verdächtiger (...) enthüllt (so die Grundansicht des Autors) den desolaten Zerfall des Landes. In das dunkelste Stimmungsloch gerät Leandri auf einer Bahnfahrt, als sein Blick auf die jüngsten Balkenüberschriften seiner Zeitung über die Enthüllung von Korruptionsskandalen fällt. Es folgt im Text eine politisch-moralische Vanitas-vanitatum-Klage (...) Keine vituperatio patriae, wie man sieht, sondern nach des Autors eigenen Worten "eine Art hoffnungsloser (obwohl nicht ganz verzweifelter) Liebeserklärung an Italien" – zumal malattia im Titel und Textverlauf sarkastisch das berufliche und generelle Verantwortungsethos (also doch eigentlich "gesunde" Eigenschaften) des Protagonisten charakterisieren soll».
     In einem Interview der Zeitung «La Notte» gestand der Autor zwar, daß er ursprünglich die Absicht gehabt hatte, einen Generationsroman schreiben zu wollen, erklärte aber, daß in der Folge die Frage nach dem Bösen und dem Sinn menschlichen Handelns in den Mittelpunkt seiner Arbeit getreten sei: «Beim Ausdenken der Geschichte fühlte ich das Bedürfnis, einen Roman gegen mehr noch als über meine Generation zu schreiben. Aber während der Niederschrift (…) wurde mir immer klarer, wie vage und irreführend der Begriff Generation ist. (...) Ein Polizist ist wie ein Arzt und selbst ein Dichter ein uomo d´ordine, ein Ordnungsmensch: er versucht, die Ursache einer Tat zu finden und diese zu bekämpfen; dasselbe tut der Arzt, der sich bemüht, einen Patienten zu heilen; und selbst der Dichter kämpft in seiner kleinen Welt aus Worten gegen die Unordnung der Sprache (...). Leider scheint die Wirklichkeit eine solche Ordnung nur als Ausnahme zu dulden: vom kleinen Diebstahl bis hin zum Greuel des Krieges, vom banalen Schnupfen bis hin zur tödlichen Seuche, vom kindlichen Stottern bis hin zum bunten Durcheinander menschlicher Stimmen ist die bequeme, Sicherheit bietende Normalität ständig durch die Anwesenheit des Bösen beeinträchtigt. Wer das versteht, leidet an der gleichen Krankheit wie der Kommissar Leandri».
     Immer eindeutiger tritt also «il male» (was auf italienisch sowohl das Übel als auch das Böse bezeichnet), das Element der Unordnung als Grundthematik des Autors in den Vordergrund, ja selbst die Erwähnung des Arztes könnte auf den Stoff des späteren Romans Una crociera hinweisen.
     La malattia del commissario bietet dem Leser in seiner einfachen Konstruktion aus Gesprächen mit ständig wechselnden Figuren eine große Vielfalt an Charakteren, Situationen und Stilebenen, die alle von der ununterbrochenen, fast obsessiv anmutenden indirekten freien Rede des Kommissars getragen werden. Nicht mit realistischem Anspruch dargestellt, sondern immer durch die Persönlichkeit des Protagonisten gefiltert treten in diesem Roman die dunklen Seiten unserer Gesellschaft auf: politischer Radikalismus und Utopie, Drogen, Sex, sozialer Arrivismus und Zynismus , Enttäuschung und ohnmächtiger Groll. Allerdings befindet sich unter den vielen Figuren dieses Romans, wie Cesare De Marchi in seiner Lesung auf der Leipziger Buchmesse 1999 gesagt hat, «eine, die mit ihrer grotesken Komik das Gegenstück zur Hauptfigur, zum Kommissar bildet: ein extrovertierter, temperamentvoller Architekt, der reich geworden ist dank eines (nach seinen eigenen Worten) "architektonischen Vandalismus" im Auftrag lombardischer Emporkömmlinge. (...) Bei dieser Figur gelang es mir zum ersten Mal, eine einigermaßen fließende direkte Rede zu schaffen, die eine Mischung aus kultivierter und gesprochener Sprache ist». Dieser Architekt ist das Vorbild für Carlo Marozzi, den Helden von Il Talento.

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