Georg Maag, Cesare De Marchi

 «Ich teile die nihilistische Haltung nicht, obwohl ich einräume, daß sie von der Realität nahegelegt werden könnte. Eher betrachte ich mich als skeptischen Rationalisten, in dem Maße als ich nicht weiß, inwiefern die Realität eine rationale Haltung zuläßt. Ich glaube aber auch, daß letztere die einzig mögliche Haltung ist: wir können nichts anderes tun, als nach einer Ordnung zu suchen»: mit diesen Worten hat sich Cesare De Marchi in einem Interview des Giornale di Napoli einmal selbst porträtiert.
     Cesare De Marchi, 1949 in Genua geboren, hat sich nicht nur als Erzähler und Romancier einen Namen gemacht, sondern auch als Essayst und Übersetzer von Fontane (Amori, errori, 1982), Grillparzer (Guai a dire bugie!, 1991), Schiller (Kallias o della bellezza, 1993), Schnitzler (La predizione, 1995). Eine Übersetzung von Thomas Manns Tonio Kröger und Tristan befindet sich in Vorbereitung. Wenigstens seine Ausgabe ausgewählter ästhetischen Schriften Schillers verdient hier die Anmerkung, daß sie durch die Sorgfalt beeindruckt, welche De Marchi bei der Übersetzung der Terminologie des deutschen Idealismus walten läßt, etwa wenn er "Einbildungskraft" entgegen der üblichen von immaginazione bis fantasia reichenden Palette bewußt mit immaginativa wiedergibt oder strenger als sonst differenziert zwischen piacere («Lust»), compiacimento («Wohlgefallen»), godimento («Genuß») und diletto («Vergnügen»). Wie facettenreich sein Werk ist dokumentieren darüber hinaus die Übersetzung der Conjuration des Kardinals von Retz, La congiura del conte Gian Luigi Fieschi (1990), in deren Einleitung De Marchi auf die literarischen Verarbeitungen des Fiesco-Stoffes bis ins 19. Jahrhundert hinein nachspürt ― unter der schönen Kapitelüberschrift ― L’Ottocento, o il diluvio del cattivo gusto, sowie die Edition der beiden Textfassungen von Luigi Da Portos La Giulietta (1994).
     Auch eine Zeitschrift hat Cesare De Marchi mitbegründet, Nuova Prosa, deren erstes Heft 1987 erschien. Das im Titel enthaltene Prädikat signalisiert nicht eine neue Stilrichtung, sondern bedeutet vielmehr die Absicht, noch unbekannte Texte zeitgenössischer Prosa ― gleich welcher Stilrichtung ― vorzustellen, deren Auswahl sich am Kriterium ihres ästhetischen Wertes bemißt. Freilich stellt sich damit die heikle Frage, was ästhetischer Wert ist, und wie objektiv sich bestimmen läßt, ob einer Sache ästhetischer Wert eignet oder nicht. Der Leser, der das «I nostri intenti» betitelte Vorwort auf weitere Auskünfte hin abklopft, stößt schließlich auf einen Begriff, von dem anzunehmen ist, daß er bei De Marchi seit seinem Studium der Philosophie in Mailand und seiner Beschäftigung mit Schiller und Hegel eine Schlüsselstellung inne hat: den der Schönheit. Das Programm von Nuova Prosa stünde demnach unter ausgesprochen klassischen Vorzeichen. Näherhin wäre Schönheit aufzufassen als eine der Form und der Sprache, nicht zwangsläufig als eine des Inhalts, und vermutlich entspringt es keinem Zufall, wenn De Marchi in seiner Auswahl ästhetischer Schriften Schillers neben den Kallias-Briefen und den Ästhetischen Vorlesungen (Fragmente aus einer Nachschrift) gerade auch die Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst aufgenommen hat. Wie dem auch sei, Literatur, so erklärt das Vorwort zu Nuova Prosa, bestehe «nell’intensa e pregnante rappresentazione della realtà, non importa se affettuosamente oggettiva, o sarcastica e deformante, o ancora introspettiva o fantastica o epica».
     1992 kam bei Sellerio De Marchis erster, Kindheitserinnerungen verarbeitender Roman Il bacio della maestra heraus, 1994 gefolgt von La malattia del commissario, einem Anti-Kriminalroman in der Art von Gaddas Quer pasticciaccio brutto de via Merulana. Für den an einer Krankheit im metaphorischen Sinn, nämlich an der Unerklärlichkeit des Bösen in der Welt und dem Zweifel an seiner schieren Möglichkeit leidenden Kommissar Leandri, der den Mord ― oder war es Selbstmord? ― an seiner ehemaligen Klassekameradin Enza Gorla aufzuklären hat, gerät die Ermittlung im Kreise der tatverdächtigen Personen zu einer irritierenden Konfrontation mit der eigenen Generation, zu einer «Höllenfahrt». Allesamt sind sie einstige Mitschüler, allesamt haben sie sich als Studenten der Protestbewegung der sechziger Jahre verschrieben. Die Investigation führt Leandri nicht zur Aufdeckung des Täters, sondern zur schmerzlichen Erkenntnis dessen, was aus seiner Generation am Ende der Revolte geworden ist. «Sì, ho finito di scandagliare nelle sue comode profondità l´inferno dei cosiddetti innocenti, quali sono i miei vecchi compagni di scuola, tutti. Non li credevo così perfettamente corrotti nella loro innocenza… corrotti di malvagità spicciola e di stupidità.»
     Bei Feltrinelli erchien 1997 De Marchis ― im Folgejahr mit dem «Premio Campiello» und dem «Premio Commisso» augezeichneter ― Roman Il talento. Er ist keineswegs das, was sein erster Satz: «Sono nato quarto di tre figli in una famiglia decorosamente malestante», bei oberflächlicher Lektüre zunächst erwarten läßt: eine Wiederkehr des Neorealismus, eine sozialkritisch getönte Milieuschilderung, ein Lebensbericht, der um seiner Authentizität willen den Rang eines Kunstwerks beansprucht. Schon der moralische Ernst des zweiten Satzes, der mit dem nicht ganz leicht übersetzbaren Begriff der omissione zugleich einen rechtlichen Maßstab einführt (Omissivdelikt: Unterlassung einer Handlung, zu der man gesetzlich verpflichtet ist), läßt aufhorchen: «fin dove risale la mia memoria, l’omissione della mia persona fu concorde e completa». Wer sich von hier aus noch einmal auf den ersten Satz zurückwendet, sieht ihn in einem klareren Licht. Und in der Tat sollte man sich davor hüten, diesem Satz Unrecht widerfahren zu lassen, wissen wir doch, daß ihn der Autor mit sich im Kopf herumgetragen hat, lange bevor der Roman entstanden ist. Normaleweise würde man nämlich sagen: Ich kam als jüngstes (oder letztes) von vier Kindern zur Welt. Die unmögliche und paradoxe ― so paradox wie die «decorosamente malestante»-Formulierung, die der Sachverhalt bei De Marchi annimmt: Ich kam als viertes von drei Kindern zur Welt, bringt das Übersehenwerden, die Auslassung, das Nichtexistieren des Protagonisten im Bewußtsein seiner Familie vielmehr von Anfang an zum Ausdruck und manifestiert die sprachliche Raffinesse, welche in Il talento am Werk ist.
     Il talento erzäht die Geschichte Carlo Marozzis ― ein Name, bei dem das deutsche Wort «Schmarotzer» Pate gestanden hat. Carlo Marozzi ist Opfer eines Kindheitstraumas: jüngstes Kind aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, spürt er früh, was es bedeutet, unerwünscht zu sein. Der einzige, der ihn nicht ignoriert, ist sein mongoloider Bruder Sandro. Doch trotz der widrigen Startbedingungen oder gerade deswegen setzt sich bei Carlo der Wunsch durch, Schmied seines eigenen Glücks zu sein. Als moderner Großstadt-pícaro versucht er sich als Warenverpacker, Korrekturenleser, Schuldiener, Schneckenzüchter und Redakteur in einem Verlag für Lexiko- und Pornographie. Seine Spielleidenschaft, die ihren Höhepunkt in einem lukrativen Gewinn im Spielcasino Campione erreicht, beschert ihm streckenweise ein angenehmes Leben. Frauen säumen seinen Weg, doch Carlo Marozzi fühlt sich keineswegs als Ehemann und Vater geeignet. Nachdem seine Betrügereien als Schuldiener (Unterschlagung von Gratisbuchsendungen) auffliegen, nimmt das Übel seinen Lauf, als er sich, von Schulden geplagt, mit seinem neapolitanischen Freund Michele gänzlich der Schneckenzucht widmen möchte. Doch auch die so niedlichen Tierchen scheinen Carlo einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie kriechen dem ehemaligen Sportwagenfahrer, dem von einer geradezu futuristischen Lust an der Geschwindigkeit Besessenen, ganz einfach davon...
     De Marchis Roman hat Assoziationen u. a. mit Zenos Gewissen wachgerufen ― wie Zeno Cosini sei auch Carlo Marozzi ein «Lebenskünstler, ein Antiheld, der die besondere Fähigkeit aufweist, sich vor den Lasten und Verboten der Existenz zu drücken» (Avvenimenti). Hinrich Hudde hat Il talento anläßlich der Präsentation des Romans in München mit den Worten gewürdigt: «Die italienische Literatur hat endlich einen echten Schelmenroman, die Geschichte eines modernen Großsstadt-pícaro». In keine der von der Literaturkritik bemühten Kategorien fügt sich Il talento jedoch umstandslos ein. Das Prinzip der zunehmenden Witzigung des Pikaro wird durch die konstitutive «inettitudine» (Unfähigkeit) Carlo Marozzis relativiert, so daß es angemessener erschiene, von einer Überschneidung mehrerer literarischer Traditionen zu sprechen. Eben das macht den Handlungsverlauf des Romans so unvorhersehbar, der damit alle Qualitäten einer echten Geschichte besitzt, wie sie Umberto Eco definiert hat: nämlich als «Entwicklung von Ereignissen, die uns von einem Ausganspunkt zu einem Endpunkt führt, an dem anzukommen wir nicht einmal im Traum gedacht hätten» (Der Mythos von Superman).
     Als Erzähler ist Cesare De Marchi in Deutschland noch unentdeckt geblieben. Dabei läßt sich gerade seine Erzählung Bombe, 1995 in Nuova Prosa veröffentlicht, die ineins mit der stilistischen Meisterschaft De Marchis schlagartig auch seine vis comica offenbart, als pikareskes Präludium von Il talento betrachten. Wir freuen uns daher, für das nächste Heft von «Horizonte» eine Übertragung dieser Erzählung ins Deutsche ankündigen zu können.


(Aus «Horizonte», 4. Jahrgang, 1999, S. 224-227; © Gunter Narr Verlag, Tübingen)

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