Einführungen und Herausgaben von Texten

Von Anfang an war Cesare De Marchi nicht nur als Erzähler tätig, sondern auch als Essayist. Der Geschichte der Philosophie galten seine ersten, noch in den Siebziger Jahren verfassten Arbeiten, unter anderem über den jungen Hegel (La ´Vita di Gesù´ di Hegel in «Rivista critica di storia della filosofia», Milano 1976/4, S. 375-409), über Schiller als Denker (Profilo del pensiero di Schiller in «Miscellanea n° 2 - Studi di filosofia, pedagogia, psicologia», Genova 1978, S. 7-59) und über Die italienische Philosophie von den Ideologen bis Gioberti (für eine neue, dann nicht erschienene Ausgabe der Überwegs Geschichte der Philosophie).
     Sein literarisches Interesse trat dann auch im essayistischen Bereich in den Vordergrund. 1982 erschien bei Mondadori, Mailand De Marchis Übersetzung von Irrungen Wirrungen, der eine konzentrierte Studie über Fontane vorangestellt war. Dieser Essay, eine aufschlußreiche Neubewertung Fontanes, diskutiert besonders eingehend die Funktion der Fontaneschen Dialoge, sowie die nicht immer gelungene Dramatisierung des Erzählstoffes: Bezeichnend für De Marchis literaturkritische Einstellung ist z. B. die Art, wie er die Charakterisierung der männlichen Hauptfigur, Botho von Rienäcker, anhand der Schlüsselszene beim Grab von Hinckeldey im 14. Kap. des Romans analysiert; wobei er zu dem Schluß kommt, daß die für die Romanhandlung zentrale Entscheidung Bothos, die geliebte Frau aus dem Volk zu verlassen, um eine ihm angemessene Ehe einzugehen, ein eher passives, willenloses Geschehenlassen ist, das sich darum nicht eignet, jene strukturbildende Funktion innerhalb der Erzählung zu übernehmen, die Fontane ihr zugedacht hat. Allerdings respektiert De Marchi hier wie auch in anderen seiner literaturkritischen Essays die Poetik des Autors, um sich auf eine streng textimmanente Kritik zu beschränken. Obwohl seine eigene schriftstellerische Erfahrung eine Rolle spielen mag, wenn er Besonderheiten des Stils, des Wortschatzes, des Satz- und Handlungsbaus eines Autors untersucht, ist er doch immer bemüht, die Objektivität des Blickes zu bewahren.
     Später hatte De Marchi Gelegenheit, seine essayistische Arbeit im Sinne einer (wie er sie in einem Interview nannte) «diachronischen Literaturkritik» zu erweitern: Anlaß dazu gaben ihm seine komparatistischen Studien zur Stoffgeschichte der Verschwörung des Fiesko und der Romeo- und Julia-Fabel, die er seiner Übersetzung von Kardinal von Retz' Conjuration du comte Jean-Louis de Fiesque (Sellerio, Palermo 1990) bzw. seiner kritischen Ausgabe der Giulietta von Luigi Da Porto (Giunti, Firenze 1994) voranstellte.
     In diesen Essays werden nicht nur die wichtigsten literarischen Behandlungen des Fiesko- und des Julia-Stoffes besprochen und jeweils bewertet, sondern hauptsächlich Eigenschaften, Schwierigkeiten, ja teilweise Mängel des Stoffes im Hinblick auf seine literarische Verarbeitung benannt. Dabei spielt es nur eine sekundäre Rolle, daß die Verschwörung eine historische Tatsache, die Julia-Geschichte aber eine nur erdichtete ist: Wichtig ist in beiden Fällen, wie Charaktere und Handlung erzählerisch gegliedert werden und wie daraus eine konsequente dramatische Konstruktion gemacht wird. Schiller z. B., so De Marchi, sei der erste gewesen, der versuchte, der Fiesko-Handlung eine vollständig dramatische Gestaltung zu geben und der sich darüber im klaren war, daß die «Katastrophe des Komplotts, worin der Graf durch einen unglücklichen Zufall am Ziel seiner Wünsche zugrunde geht, durchaus verändert werden mußte», eben weil sie eine «undramatische Wendung» ist (so Schiller in der Vorrede zu seinem Trauerspiel). Ein besonderes Augenmerk richtet De Marchi auf Untersuchung und Vergleich von zwei kleinen, hervorragenden Verschwörungs-Darstellungen aus dem XVII Jahrhundert, der Congiura del conte Fieschi von Agostino Mascardi und der schon erwähnten Conjuration von Retz.
     Ähnlich verfährt De Marchi in Giulietta e Romeo: la storia della storia, der einführenden Studie zu Da Portos Giulietta, wo er den literarischen Quellen der weltberühmten Liebesgeschichte nachspürt und ihre poetischen Verarbeitungen durch vier Jahrhunderte europäischer Literatur bis zum Anfang des XX. Jahrhunderts zurückverfolgt. Gründlich untersucht De Marchi den Übergang von der ursprünglichen Novelle Da Portos zur Nacherzählung von Matteo Bandello, dessen Version der Romeo-und-Julia-Geschichte die Grenzen Italiens überschreiten und eine großartige Entwicklung (nicht zuletzt durch Shakespeares Verarbeitung) erfahren sollte.
     In die gleiche Zeit fiel die Übersetzung der Komödie Weh dem, der lügt! (Guai a dire bugie!, Greco&Greco, Milano 1991) mit einem einleitenden Essay über Grillparzers Theater (Disordine e sconfitta degli eroi di Grillparzer, S. 7-46).
     Weniger ein ästhetisches als ein literarisch-kritisches Interesse war das Motiv für De Marchis beeindruckenden Versuch, den Inhalt von Schillers mehrmals angekündigter, jedoch nie niedergeschriebener Abhandlung über das Schöne zu rekonstruieren. Dies ist nämlich der Sinn der umfangreichen, dokumentierten Einführung zu den von De Marchi selber übersetzten Kallias-Briefen (Kallias, o della bellezza e altri scritti di estetica, Mursia, Milano 1993). In bezug auf diese Übersetzung erklärte sich Georg Maag «durch die Sorgfalt beeindruckt, welche De Marchi bei der Übersetzung der Terminologie des deutschen Idealismus walten läßt, etwa wenn er "Einbildungskraft" entgegen der üblichen, von immaginazione bis fantasia reichenden Palette bewußt mit immaginativa wiedergibt oder strenger als sonst differenziert zwischen piacere ("Lust"), compiacimento ("Wohlgefallen"), godimento ("Genuß") und diletto ("Vergnügen")». In dem der Übersetzung vorangestellten Essay Schiller e la bellezza gibt De Marchi einen außerordentlich klaren Überblick über Schillers verstreute, fragmentarische Versuche, zu erklären, wie die dichterische Kunst mit Worten, die eigentlich durch universelle Begriffe geprägt sind, das Individuelle darzustellen vermag.
     1993-94 arbeitete De Marchi an einer vom Verlag De Agostini beauftragten Übersetzung von Tonio Kröger und Tristan und an einem Essay über den jungen Thomas Mann. Der Text war schon gesetzt und die ersten Fahnen ausgedruckt, als das neue Gesetz über Autorenrechte die Veröffentlichung unmöglich machte. Entstehung und Merkmale der Erzählkunst Manns werden hier anhand seiner frühen Novellen untersucht, deren Thematik De Marchi als eine Vorwegnahme der Buddenbrooks, Tristan und Tonio Kröger versteht. Es folgte eine Analyse von Tonio Kröger und Tristan.
     Die Arbeit am Père Goriot von Balzac (Feltrinelli, Milano 2004) zeichnet sich nicht nur durch die scharfumrissene Genauigkeit der Übersetzung aus, sondern auch durch die umfangreiche, stringent argumentierende Einführung, in der De Marchi die Vorzüge der Balzac'schen Erzählkunst zwar objektiv hervorhebt, jedoch gleichzeitig ihre unleugbaren Grenzen nicht verschweigt. Er geht sogar so weit, die realistische Inspiration Balzacs in Frage zu stellen.
     Zuletzt beschäftigte De Marchi sich mit den Dunkelmännerbriefen, dem Meisterwerk des deutschen Humanismus, dessen Küchenlatein er in einer originellen sprachlichen Mischung aus Altitalienisch und volkstümlich parodiertem Italienisch wiedergegeben hat. Der nicht nur literarturkritisch konzipierten, sondern auch kulturgeschichtlich sehr informativen Einführung entnehmen wir die fast romanhaft anmutende Begegnungsszene zwischen Reuchlin und dem konvertierten Juden Pfefferkorn.

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